Einmal quer durchs R2-Gebiet mit der S1

Die große "Tour de Rhein-Ruhr" per S-Bahn

Von Peter Joerdell für R2-Horizont

Foto: © public domain

Die S1 in einem der unterirdischen Ruhrgebiets-Bahnhöfe.

Rhein-Ruhr. "Manchmal verstecken sich die Leute, ducken sich unter die Sitze, echt war, dat kann ich Ihnen sagen." Der Kontrolleur ist bester Laune. Er und seine Kollegin haben ja auch kaum etwas zu tun, wir sind außerhalb der Stoßzeiten mit der S1 zwischen Solingen und Hilden unterwegs. Offenbar haben die beiden es dann und wann mit erstaunlicher Kreativität zu tun, wenn es darum geht, einer Kontrolle aus dem Weg zu gehen. Als die beiden wieder ausgestiegen sind, brummt ein Mann im Farb-bespritzten Blaumann im Vierer gegenüber: "Naja, wer kannet manchem verübeln - dat is ja auch 'ne Sauerei, ständich unpünktliche Züge und dann auch noch diese alten Ranzwaggons..."

Tatsächlich kann ich nur mit den Achseln zucken und zustimmend nicken. Ich kenne das Stück zwischen Solingen und Düsseldorf als Pendler zur Genüge. Seit die ehemalige S7 vor einigen Jahren mit dem restlichen Streckenverlauf fusionierte, ist nicht unbedingt alles besser geworden. Alte Bahnen, die früher in den 70ern auf dem Münchener Olympiaring verkehrten, "zieren" zudem seit kurzem wieder die Strecke. Vorbei ist es mit euch, ihr schönen, neuen vollklimatisierten Triebwagen! Tristesse Royal, Graffiti, der Geruch nach Urin - wäre man in Berlin, würde man meinen, gleich kommen die Ärzte um die Ecke. Aber auch in Düsseldorf wartet man vergebens auf - wenigstens - die Hosen. Vermutlich fährt Campino gerade wieder zum Kaffeetrinken mit OB Elbers in Bertie Wollersheims Stretch-Limo.

Was ist das überhaupt, Angermund?

Jedenfalls - Kreativität - über die kann man sich in der S1 nicht beschweren. Spätestens als am Düsseldorfer Flughafen die glücklich grinsenden, schwer-gepäck-beladenen Bald-Urlauber aussteigen, hält die in Gestalt zweier Mitbürger mit nicht näher definierbarem Migrationshintergrund Einzug. Und sie haben einen Song, der mindestens schlecht genug ist, um beim ESC ins Rennen geschickt zu werden, im Gepäck. Der hat sich im Gegensatz zu ihnen auch gewaschen. Hm. Der Penner am Ende des Waggons machte wenigstens keinen Lärm. Was soll's. Zwei Euro später steigen sie auch schon wieder aus - war das jetzt Angermund? Und was ist das überhaupt, Angermund? Nun ja, vielleicht werden wir es auch einfach nie erfahren. Die große Sehnsucht, mit der ich noch am Flughafen aus der Bahn schaute, wo ich am Liebsten mit ausgestiegen wäre, ist jedenfalls verflogen. Auch das gehört zum Wechselbad der Gefühle, das eine Reise mit der S1 mit sich bringt.

Mit dem Halt in Duisburg und dem Einzug in "Schimmi-Country" ist eindeutig der Wechsel in den Pott vollzogen. Keine Bankster und Broker mehr (wie sie am Düsseldorfer Hauptbahnhof zu Hauf ein- und aussteigen), dafür Cem, auf dem Weg zum Fußballtraining zwei Haltestellen weiter. "Das kann ich Dir sagen" (dank der sympathischen Art des jungen Deutschtürken, der gerade sein Abi macht, sind wir sofort per Du) "was bin ich froh, wenn ich mir ein Auto leisten kann, in ein paar Jahren. Die ganzen Verspätungen, das habe ich sowas von satt - steht mir bis hier, Mann!" Da sind sich Rheinland und Ruhrgebiet sowas von einig. Die Zustände was Pünktlichkeit und Ausfall ganzer Züge angeht, sind auf der S1 nicht gerade rosig. Meckern vereint.

"Mein Herbert will das ja immer nicht hören..."

Foto: © Hackebeilchen / photocase.com

Das Leben in der S1 rauscht an einem vorbei. Ganz entziehen kann sich aber keiner...

Das gilt auch für das ältere Ehepaar, das zwischen mir zwischen Mülheim und Bochum gegenübersitzt. Besonders, als wir uns der Ruhr-Uni nähern, senkt sie die Stimme: "Mein Herbert will das ja immer nicht hören, und es gibt ja auch nette Studenten... aber wir hätten uns das früher nicht getraut. Füße auf dem Sitz, alles Beschmieren..." Hm. Man weiß nicht, ob das die Studenten sind. Die MA- und BA-Sklaven, die Bologna geschaffen hat, haben für soviel Unsinn und Aufbegehren vermutlich gar keine Zeit. Jedenfalls sitzen die in Bochum, im Bunker-artigen Bahnhof der Ruhr-Uni zugestiegenen Gestalten in Cardigans, Jeans und Sneakers gestresst über Ordner und Laptops gebückt, statt im ÖPNV die Weltrevolution auszurufen und sich entsprechend zu gerieren. Außerdem sollte man doch hoffen, dass Studenten schönere "Scratchings" an den Scheiben hinkriegen würden und mit Eddings bewaffnet wohl Graffiti mit weniger orthographischen Grausamkeiten zu produzieren in der Lage wären...

Die lange Fahrt macht müde. Als nur noch das Tippen der Studenten die Ruhe stört, nicke ich kurz ein. Und werde, schon fast in Dortmund, von russischen Stimmen geweckt. Drei Männer sitzen um einen Karton, gestikulieren wild, und scheuchen einen vierten ins nächste Abteil. "Dawai, dawai!" Was auch immer hier los ist - ich will es gar nicht so genau wissen. Langsam schleiche ich zur Tür (neugierig bin ich ja doch).

Geschenke von lachenden Russen

Und sehe, fassungslos, wie der Kontrolleurs-Kollege von eben von dem vierten herbeigeschafft wird - und mit Kaviar aus der Kiste von den lachenden Russen beschenkt wird. Was auch immer hier für ein Deal abgeschlossen wurde - auch das ist Rhein-Ruhr. Beim Aussteigen steht der Kollege von der Bahn wieder neben mir. "Wie haben Sie sich den Spaß den verdient?", will ich natürlich dann doch wissen. "Ach, die arbeiten auf 'ner Baustelle hier in der Nähe, und einer von denen hat sein Ticket verschlampt, neulich. Und weil ich die jeden Tach kontrollier' , hab ich mir gesagt, ,machste mal keinen Aufriss, lässte den Kollegen halt die zwei Stationen noch mitfahren."

"Und dafür kriegen Sie dann Kaviar?" "Naja", erwidert der Kontrolleur lachend, "beim nächsten Mal wär et dann natürlich schonn angebracht, dat die mir 'n Fläschken Krimsekt drauflegen... Aber wissen Sie was, nehmen Sie doch den Kaviar, wir sollen ja eigentlich keine Geschenke annehmen…"

Kopfschüttelnd, schmunzelnd und um eine Dose Kaviar reicher gehe ich nach der Verabschiedung auf dem Bahnsteig in die andere Richtung. Jede Tour de Ruhr ist ein Erlebnis für sich. Wer weiß, was mich oder Sie beim nächsten Mal erwartet?

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